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Die Mitte Kanton Bern Sie kandidierte frech für den Bundesrat
21. Juli 2022 – Ein Nachruf von Claude Longchamp über Judith Stamm
Die längste Diskussion gab es zum Titel des Berichts der Kommission für Frauenfragen. Die Autorinnen und Autoren liebäugelten mit der Forderung «Machen Sie Platz, Monsieur». Dem stand das wohlwollende «Nehmen Sie Platz, Madame» gegenüber. Judith Stamm hatte als Präsidentin der Kommission das letzte Wort. Sie entschied sich nach viel Hin und Her für die wohlwollendere Version.
Dabei war Judith Stamm dafür bekannt geworden, dass sie Männern zu bedeuten gab, sie sollten endlich Frauen Platz machen. 1986, als Kurt Furgler und Alphons Egli aus dem Bundesrat zurückgetreten waren, kandidierte sie, die erst 1983 zur Luzerner CVP-Nationalrätin gewählt worden war, keck für einen Sitz in der Landesregierung. Ohne offiziell nominiert worden zu sein. Und in beiden Wahlgängen. Sie wollte dem Prinzip der nötigen Veränderung Ausdruck geben.
Der Bruch mit dem Ritual sorgte mächtig für Aufsehen und löste viele Diskussionen aus. Doch die Pionierin wurde zweimal nicht gewählt. Platz in der Landesregierung nahmen Flavio Cotti und Arnold Koller.
Zuvor hatte die Frauenkämpferin eine Motion zur Durchsetzung des Gleichstellungsartikels eingereicht, der seit 1981 fast folgenlos in der Bundesverfassung stand. Resultat des Vorstosses war 1988 die Schaffung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau, das bis heute von eminenter Bedeutung ist. Ein Jahr später wählte der Bundesrat die promovierte Juristin zur Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen.
Da zauderte Judith Stamm nicht lange. Mit Blick auf die Wahlen 1991 sollte erstmals ein umfassender Bericht zur mangelhaften politischen Repräsentation der Frauen in der Schweiz erscheinen, das war ihre Idee. Dafür versammelte das Kommissionssekretariat eine Reihe von Forscherinnen und Forschern, die das Thema aus allen Blickwinkeln ausleuchten sollten.
Ich war junger Assistent am damaligen Forschungszentrum für Schweizer Politik der Universität Bern und bekam die Aufgabe, das Wahlverhalten der Frauen von 1971 bis 1987 systematisch zu analysieren. In aller Leute Mund war noch, dass Frauen damals konservativer wählen würden als Männer.
Doch stand die Hypothese zur Diskussion. Zu Recht. Denn die Ergebnisse deuteten an, dass die Nichtwahl der SP-Frau Lilian Uchtenhagen bei den Bundesratswahlen 1983 eine Zäsur waren. Politisiert wurden damals insbesondere Frauen. Und sie wurden oppositioneller, auch leicht linker. Das konservative Bild brach auseinander.
Der Höhepunkt der Karriere von Judith Stamm war 1996, als sie Nationalratspräsidentin und damit höchste Schweizerin wurde. Begonnen hatte der Aufstieg aber Mitte der 1980er-Jahre, als es weit über die Repräsentation der Frauen in der Politik hinaus um die Gleichstellung ging, die im Recht ihren Anfang nehmen musste. Dafür stand unübersehbar die Luzerner Politikerin, die an die Möglichkeit der Veränderung institutioneller Politik glaubte.
Ich habe Judith Stamm als dezidierte, gleichzeitig respektvolle Pionierin der Frauenfrage in der helvetischen Politik kennen und schätzen gelernt. Sie war ein grossartiges Vorbild und hat viel ausgelöst für die Frauen. Von ihr sage ich heute noch uneingeschränkt: Sie war eine Persönlichkeit der Schweizer Geschichte.
Am Mittwoch ist sie nach einem ereignisreichen Leben 88-jährig gestorben.